P. Andrist: Les manuscrits grecs

Titel
Les manuscrits grecs conservés à la Bibliothèque de la Bourgeoisie de Berne – Burgerbibliothek Bern. Catalogue et histoire de la collection


Autor(en)
Andrist, Patrick
Erschienen
Dietikon-Zürich 2007: Urs Graf Verlag
Anzahl Seiten
349 S.
Preis
URL
Rezensiert für infoclio.ch und H-Soz-Kult von:
Christine Luz

Wer dem Kodikologen über die Schulter schaut, kann sich derselben Bewunderung und Faszination nicht ganz entziehen, der Dr. Watson angesichts der Arbeitsweise seines Freundes Sherlock Holmes unterlag, wenn dieser vor seinen Augen aus für ihn unsichtbaren Zeichen und scheinbaren Belanglosigkeiten einen Fall rekonstruierte. Das Corpus Delicti ist für den Kodikologen die Handschrift; analysiert werden die Eigenarten der Schrift, Buchstabenformen und Ligaturen, der Schriftspiegel, ebenso die Beschaffenheit des Pergaments oder Papiers, die chemische Zusammensetzung der Tinte und die Machart des Einbandes. Aus diesen Untersuchungen gewinnt der Handschriftenspezialist Aufschluss darüber, wo und wann ein Codex entstanden ist, welche und wie viele Schreiber daran gearbeitet haben, in welchem chronologischen Verhältnis verschiedene Einträge, allfällige Nachträge und Korrekturen zueinander stehen, in wessen Besitz die Handschrift gelangte, welche Spuren spätere Leser hinterlassen haben, kurz: Das Ziel dieser Detektivarbeit ist es, den Weg der Handschrift von ihrer Entstehung bis zu ihrem heutigen Aufbewahrungsort möglichst genau nachzuvollziehen. Jede Handschrift wird auf diese Weise zum Dokument einer jahrhundertelangen Periode europäischer Geistesgeschichte.

Die Arbeit des berühmten Detektivs aus der Baker Street hat Patrick Andrist für die griechischen Handschriften der Berner Burgerbibliothek übernommen. Die Sammlung deckt ein breites Spektrum an antiken und byzantinischen Texten ab: von Aristoteles bis zu den visuellen Gedichten des Theodoros Prodromos aus dem zwölften Jahrhundert, von Thukydides über Epiktet und Plutarch bis zu den Werken von Kirchenvätern und byzantinischen Hymnen. Einigen Handschriften kommt dabei eine besondere Rolle in der Überlieferung antiker Texte zu: Der Berner Codex 402 beispielsweise diente dem italienischen Humanisten Aldus Manutius als Grundlage für die erste gedruckte Ausgabe von Theophrast, eine der berühmten Aldinae. Viele der Handschriften sind ausserdem illustriert: Derselbe Codex 402 enthält Zeichnungen zu den (pseudo-)aristotelischen Mechanika, die auf Niccolò Leonico Tomeo, den Paduenser Aristotelesgelehrten aus der Renaissance, zurückzugehen scheinen. Andere Handschriften wie etwa der Codex 642 oder der Codex 703 enthalten in prächtigen Farben gestaltete Initialen und Titelblätter, die in sich kleine Kunstwerke darstellen.

Das Ergebnis der Untersuchungen von Patrick Andrist ist nicht nur ein ausführlicher Katalog, in dem jede Handschrift mit ihrem Inhalt, ihrer Beschaffenheit und ihrer Herkunft beschrieben wird, sondern auch eine Geschichte der griechischen Handschriften der Berner Burgerbibliothek. Diese stammen zum grössten Teil aus dem Besitz des französischen Diplomaten und Gelehrten Jacques Bongars, dessen Bibliothek im Jahre 1632 über seinen Patensohn Jakob Graviseth, der mit Salome von Erlach verheiratet war, nach Bern kam. Die griechischen Handschriften der Bongars‘schen Sammlung zeichnen sich durch ein Übergewicht bestimmter Textgattungen aus. Vorherrschend sind historiographische und philosophische Schriften, daneben finden sich auch Werke religiösen, rechtlichen und militärwissenschaftlichen Inhalts. Diese Prävalenz bestimmter Themen kann zwar vielleicht auf den Umstand zurückzuführen sein, dass gewisse Handschriften leichter aufzufinden und zu erstehen waren als andere; dennoch stellt sich die Frage, ob sie nicht vielmehr die persönlichen Interessen des französischen Diplomaten widerspiegelt. Die Auswahl und Zusammensetzung der Sammlung dürfte also vermutlich einen Einblick in den Geschmack und vielleicht auch die Persönlichkeit des Menschen gewähren, dem die Berner Burgerbibliothek einen Grossteil ihres Handschriftenbestandes verdankt.

Die Bongarsiana wurde erst einige Zeit als eigenständige Sammlung neben den Beständen der Bibliotheca Civica aufbewahrt, bevor die beiden Bibliotheken am Ende des siebzehnten Jahrhunderts zusammengeführt wurden. Im Laufe der folgenden Jahrhunderte ist die Geschichte der Berner Handschriften durch verschiedene Kataloge dokumentiert, darunter ist insbesondere derjenige von Hermann Hagen aus dem Jahre 1875 zu erwähnen, der sich durch seine systematische und präzise Beschreibung der Handschriften auszeichnet. Weitere berühmte Namen sind mit den Codices der Berner Burgerbibliothek verknüpft, etwa derjenige Albrecht von Hallers, der kurze Zeit das Amt des Oberbibliothekars innehatte, bevor er 1736 als Professor für Anatomie, Botanik und Chirurgie an die Universität Göttingen berufen wurde.

Patrick Andrists Buch, ergänzt durch eine CD-ROM mit elektronisch durchsuchbarem Text und zusätzlichen Abbildungen, enthält eine umfassende und anschaulich illustrierte Darstellung eines bedeutenden Kulturschatzes der Stadt Bern. Es dokumentiert in Wort und Bild beinahe ein halbes Jahrtausend ihres Geisteslebens und lässt die langanhaltende Tradition der Pflege und Wertschätzung von Bildung und geistiger Kultur in der Aarestadt gegenwärtig werden. Das Buch richtet sich nicht nur an ein Expertenpublikum, für das es eine Grundlage für weitere Forschung zu den Berner Handschriften bildet, sondern macht diese wertvolle Sammlung auch einer Leserschaft von Nicht-Spezialisten zugänglich, welche mehr über die Schätze erfahren möchte, die in dem stattlichen Gebäude an der Münstergasse verborgen liegen.

Zitierweise:
Christine Luz: Rezension zu: Andrist, Patrick: Les manuscrits grecs conservés à la Bibliothèque de la Bourgeoisie de Berne –Burgerbibliothek Bern. Catalogue et histoire de la collection, Dietikon-Zürich, Urs Graf Verlag, 2007. Zuerst erschienen in: Berner Zeitschrift für Geschichte, Jg. 72, Nr. 3, Bern 2010, S. 73-74.

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Zuerst veröffentlicht in

Berner Zeitschrift für Geschichte, Jg. 72, Nr. 3, Bern 2010, S. 73-74.

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